Spezielbericht: Kinder erziehen oder Judo unterrichten?

“Ich möchte mein Kind bei Ihnen zum Judo anmelden“, sagt eine energisch klingende Mutter am Telefon zu mir. Auf meine Frage, wie alt das Kind denn sei, antwortet sie: “Jens wird in drei Monaten vier Jahre, aber er ist so unkonzentriert und wild und der Kinderarzt meint, Judo sei für ihn in dieser Entwicklungsphase genau das Richtige!“ Welcher Judoclub-Vorsitzende, Vereins- trainer oder Geschäftsführer hat solche Telefonate nicht schon geführt. Immer jünger werden die Mitglieder in unseren Judovereinen, immer kürzer deren Verweildauer. Und immer häufiger geht es Eltern nicht darum, dass ihre Kinder Judo lernen, sondern in
schwierigen Entwicklungsphasen therapeutische Unterstützung erhalten.


Der Anspruch an die Vereine geht mehr und mehr in Richtung Kindererziehen und immer weniger - so will es mir scheinen - in Richtung Erlernen des Judosports. Dabei erliegen Eltern, Pädagogen, Psychologen, Ärzte und Lehrer dem Irrtum, dass ein “schwieriges“ Kind mit Judo quasi von selbst therapiert bzw. von seinen “Unarten“ geheilt werden könnte.
Ohne Zweifel kann das Erlernen des Judosportes “heilend“ wirken, aber diese Wirkungen erschliessen sich erst in einem lang andauernden Prozess, der Jahre, Jahrzehnte, manchmal auch ein ganzes Leben andauern kann. Kindererziehung oder Verhaltens- therapie im Schnellverfahren kann der Judounterricht nicht bieten, auch wenn sich in Einzelfällen “heilende“ Erfahrungen schneller als erwartet einstellen mögen.
Zunächst einmal geht es bei jedem Judounterricht mit Kindern darum, diese einerseits für Judo (dauerhaft) zu motivieren, sie aber auch andererseits mit den dazu notwendigen Verhaltensregeln vertraut zu machen. So gesehen ist die erste Erziehungsmassnahme im Judounterricht die Erziehung zum Judo lernen mit unterschiedlichen Partnern in der besonderen Atmosphäre eines Judo-Dojos.
Genau darin besteht die Aufgabe eines verantwortlich denkenden Judolehrers: Alle Kinder seiner Gruppe zum verantwortbaren Umgang miteinander und innerhalb des Judounterrichtes und der Übungsstätte anzuleiten. Seine pädagogische Verantwortung konzentriert sich auf den kleinen, überschaubaren Rahmen der Übungsstätte. Hier kann er Verhalten beobachten, beurteilen und regelnd (erziehend?) eingreifen.
Alles war über das Dojo hinausgeht, entzieht sich seiner Einflussnahme und auch seiner Verantwortung - ausserhalb des Dojos liegt die Erziehung vor allem in den Händen der Eltern. Wer einmal (oder auch zweimal) pro Woche zum Judo geht, wird nicht innerhalb weniger Wochen oder Monate für sein Leben verändert.
Die erzieherischen Einflüsse des Judounterrichtes beschränken sich in den ersten Jahren vor allem aufs Erlernen des Judosports. Wenn dies erfolgreich verläuft, sollten Eltern und ÜbungsleiterInnen / JudolehrerInnen zufrieden sein.
Alles was an angeblichen Wirkungen des Judo darüber hinaus geht, basiert auf dem Prinzip “Hoffnung“. Wir können hoffen, dass Erfahrungen auf der Judomatte sich auf andere Lebensbereiche übertragen lassen, aber wir wissen es nicht genau. Wer kann die Verhaltensweisen unserer Judoschüler ausserhalb des Dojos überprüfen, wer weiss, wie der Judounterricht einen Judoschüler nach 5, 10, 20 oder 30 Übungsjahren verändert oder geprägt hat?
Sicherlich kennen wir viele tollen Geschichten des Judo auf Sozialverhalten , Selbstbewusstsein, Körperkoordination usw. Aber wer kann beweisen, dass diese Veränderungen in erster Linie auf Judo zurückzuführen waren?
Ich glaube an die positiven Möglichkeiten, die dem Judo innewohnen. Aber ich bin sicher, dass diese sich nur demjenigen erschliessen, der sich selbständig, aktiv und langfristig mit Judo auseinandersetzt. Eine solche Entscheidung für das Judo aber kann man nicht mit drei, vier, fünf oder sechs Jahren treffen. Dazu benötigt man eine reifere Persönlichkeit.
Kinder mit acht, neun Jahren sind von ihrer Motorik, ihrer sozialen Entwicklung und Persönlichkeitsentwicklung her gesehen für Judo weit besser geeignet. Ihnen können sich die in der kämpferischen Auseinandersetzung mit einem Partner liegenden pädagogischen Möglichkeiten des Judo eröffnen - jüngeren Kindern bleiben sie fast immer verschlossen. Viele der jüngeren Kinder hören mit dem Judo auf, bevor sie auf Grund ihrer körperlichen und sozialen Entwicklung zu einem tieferen Verständnis des Judo überhaupt in der Lage waren.
Wir verwenden sehr viel Energie darauf, Judo an Kinder zu vermitteln, die es nicht verstehen (können). Wir brauchen mehr Bescheidenheit im Hinblick auf die durchaus vorhandenen positiven Wirkungen des Judo bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Judo ist keine Verhaltenstherapie! Judo ist kein Erziehungsmittel für Kleinkinder! Judo kann man nur demjenigen vermitteln, der dazu reif ist - und Reife ist (auch) eine Frage des Alters.
Wir brauchen aber auch mehr Hoffnung darauf, dass sich (lebens-)philosophische Einsichten unseren Übenden langfristig erschliessen und Verhaltensänderungen zeigen werden. Bis dahin sollten sich Eltern, Kinder, und Judo-Lehrende an den direkten Wirkungen eines guten Judounterrichtes erfreuen: dem Spass, dem Engagement und dem Leistungsstreben, mit dem Kinder und Jugendliche dem Judosport begegnen.

Ulrich Klocke